Montag, 28. Dezember 2015

Eine Handvoll Möhren

Tamino warf noch einmal einen Blick auf die Fassade seiner ehemaligen Schule während er entschlossen sein Handy in die Tasche schob, in der er auch Emmas Brief bei sich trug. Wachgerüttelt von den Zitaten, galt es nun aus den ewigen Selbstvorwürfen und dem Selbstmitleid herauszutreten.
Nein, er würde sich nicht bei Emma anmelden, sondern einfach drauf losfahren. Viel zu lange hatte er damit gewartet ihren Brief zu beantworten. Seit einiger Zeit wurden die Abstände immer größer, bis wieder einmal ein paar Zeilen von ihr in seinem Briefkasten landeten. Hatte sie ihn aufgegeben? Vergessen? Hatte er sein Glück, eine solche Freundin an seiner Seite zu haben ausgereizt?
Auch ihre kleinen Kurznachrichten auf dem Handy wurden immer weniger, doch ihr Inhalt erinnerte ihn oft an das gemeinsam erlebte und das Vertrauen welches zwischen ihnen bestand.
Er mochte ihre Zeilen, so wie er auch sie mochte. Ihre kleinen Botschaften waren Lichtblick in einer schweren Zeit. Sich einzugestehen, dass er Emma mehr als nur wie eine Freundin mochte, gelang ihm lange nicht. Ihre Freundschaft begann vor vielen Jahren. Damals jedoch wohnte er mit Rena zusammen und glaubte an die unerschütterliche Liebe zwischen ihnen. Emma war für ihn eine Freundin, mit der er über alles reden konnte. Nichts war zwischen ihnen, nur gegenseitiges Verstehen und Vertrauen. Erst als Rena ihn verließ und Tamino zu spielen begann, ging er Emma und seiner Mummi vor Scham aus dem Weg. Er fühlte sich weggeworfen, nichts mehr wert und wollte diesen scheinbaren Mangel ausgleichen. So geriet er immer mehr auf die schiefe Bahn, sackte tiefer und tiefer, weil er falschen Freundschaften vertraute und diese ihn später verrieten, als er nichts Materielles mehr bieten konnte.
Trotz seiner Rückzüge hatte Emma bisher immer zu ihm gehalten, ihn immer wieder kontaktiert und ihn an ihrem Leben teilhaben lassen.
Doch, was würde sein, wenn ein fremder Name an ihrer Tür stand?“
Der letzte Brief war noch mit Emmas alter Adresse versehen gewesen. „Vielleicht war sie inzwischen umgezogen oder hatte gar jemanden kennengelernt und geheiratet?!
Konnte er noch hoffen?
Oder kam die Erkenntnis zu spät? War Emma inzwischen vergeben?“

Zielstrebig führte ihn sein Weg zu seinem kleinen Zimmer, welches er in einer Wohngemeinschaft bewohnte. Nach dem Verlust der Villa, die er sich von einem Gewinn aus einem seiner großen spekulativen Geschäfte kaufte, fühlte er sich hier in der Wohngemeinschaft richtig wohl. Doch mit der Zeit wurde ihm die Fülle an verschiedenen Charakteren einfach zu viel. Neben schriller Musik, lauten Gesprächen und verschiedensten Gerüchen, drangen auch seine Mitbewohner Tag und Nacht in sein kleines Zimmer. Abgeschiedenheit und Ruhe waren hier nicht möglich. Zum Schreiben zog es ihn immer öfter hinaus in die Stille. Dort konnte er ungestört seinem zweiten tiefen Wunsch nachgehen, seinen Jugendroman neu schreiben.
Viel zu lange war er auf Eis gelegt worden wegen der Pokerabende und den Ausflügen in diese scheinheilige Welt der vermeintlich Reichen und Schönen.

Während er eine kleine Tasche mit den nötigsten Sachen für ein paar Tage Auszeit packte, begleiteten ihn viele Gedanken.

Ob Emma mir wieder hilft?“
So gern verfolgte sie damals seine geschriebenen Kapitel und konnte nie genug bekommen. Ihren aufmunternden Worten jedoch hatte er nie eine größere Bedeutung beigemessen. Sie war kritisch, dabei jedoch immer fair und niemals redete sie ihm die Handlung seiner Protagonisten aus. Rena dagegen glaubte nicht an ihn, nicht an dass was er schrieb. Kapitel für Kapitel schrieb sie um, nach ihren Vorstellungen. Doch als Emma ihm schrieb, „Wo ist der Tamino-Stil geblieben den ich so mag?“; war er erbost. Die Umschreibung brachte ihm schon bald eine Rüge seines Verlages ein und da er keine Einsicht zeigte, distanzierten sie sich von seiner Idee.
Nicht der Verlust von Villa und Geld waren das Schlimmste. Schlimmer würde es ihn treffen, wenn er nun durch seinen hartnäckigen Sturkopf Emma verlor.
War es vermessen, jetzt auf sie zuzugehen, wo er nichts mehr besaß? „

Sofort wurde ihm die Unsinnigkeit dieser Frage bewusst. Emma war niemand, die es auf Geld und Gut absah. Sie blickte in die Tiefe eines Menschen.
Genug der Rückblicke und des Badens in zerstörerischem Selbstmitleid.“ Es galt, aus dem Pech, welches er selbst verschuldet hatte, das Beste zu machen.
Bei allen scheinbaren Verlusten war ihm etwas geblieben. Seine beiden Pferde. Für die beiden war er nach den Pleiten gern Doppelschichten arbeiten gegangen. Diesen Traum wollte er sich nicht durch seine Spielsucht nehmen lassen.

Zeit war verflossen. Wertvolle Zeit, vertan, weil er seinen falschen Stolz nicht ablegen konnte. Mal brandend wie ein Fluss, der über seine Ufer drang und alles mit sich riss, was ihm auf dem Weg begegnete. Auch Tamino hatte es durch die Zeit gerissen, durch Zeit, die er immer vorgab nicht zu haben. In wilden Nächten am Spieltisch war sie zerronnen wie schmelzender Schnee. Dann wieder war sie zähflüssig wie Blei und Tamino kam es vor als würde sie still stehen, ihn gefangen halten. Ausweglos.


Ihm fiel ein Zitat von Albert Einstein ein. „Mehr als die Vergangenheit interessiert mich die Zukunft, denn in ihr gedenke ich zu leben.“
Den Grundstein dafür würde er heute legen.
Während all der Gedanken war seine Tasche fertig gepackt. Abmelden musste er sich hier in der Wg bei niemandem. Sein Fehlen würde nur auffallen, wenn jemand wieder einmal einen Zuhörer oder Zigaretten brauchte. Mit Zigaretten konnte er dienen, die legte er gut sichtbar auf den Schreibtisch. Doch mit Ohren zum zuhören sah es für die nächsten Tage schlecht aus. Es galt, sich um eigene Belange zu kümmern und einen neuen Weg einzuschlagen. Zu spät war es dafür nie.
Ein Haus war noch lange kein Zuhause“, dies war deutlich spürbar gewesen, als er allein in der großen Villa, umgeben von toten unpersönlichen Dingen und raffgierigen Begleitern, sein Leben fristete. Nicht einmal mehr seine Romanfiguren waren in seinen Gedanken bei ihm zu Gast. Ihm war nur Renas Version geblieben, denn einzig ihre Umschreibungen fanden sich noch auf seinem PC.

Tamino warf die Tür ohne einen Blick zurückzuwerfen hinter sich zu. „Ruhe“, tönte es lautstark aus einem der Zimmer. Doch das hörte Tamino schon nicht mehr, der eilend die Stufen hinablief. Sein Weg würde ihn jetzt in den nahe gelegenen Reitstall führen, dort konnte er sich einen Anhänger mieten und die Pferde für sein Vorhaben darin verfrachten. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass er zur Aufstehzeit auf dem Gestüt eintraf und somit niemanden unnötig wecken müsste. Mit dem „in den Sonnenaufgang reiten“ würde es heute nicht mehr so ganz klappen, doch die Hoffnung gab er nicht auf, dies eines Tages mit Emma nachholen zu können.

Zügig erreichte er sein Ziel und als er beim Verladen der Tiere, dem Pferdepfleger von seinem Plan erzählte, nickte jener zustimmend und gab Tamino zu verstehen er möge einen kleinen Moment auf ihn warten.

Tamino nahm Platz auf einem, der vor dem Stall gelagerten, Strohballen. Das Knistern in seiner Hosentasche musste ihn nicht an den Brief erinnern. Seinen Inhalt kannte er schon auswendig und doch nahm er ihn wie so oft zuvor, nochmals in die Hände und las die Zeilen, die ihm ein treuer Begleiter waren.
Neidlos freute er sich für Emma, die in der vergangenen Zeit ihren Platz gefunden hatte, von dem sie immer träumte. Ihr innigster Wunsch war in Erfüllung gegangen.

Lautes Stimmengewirr ließ Tamino aufblicken. Der Pferdepfleger kehrte mit seiner Frau zurück. Zu den beiden hatte es ihn in den letzten Monaten immer wieder hingezogen. Nicht nur wegen seiner Pferde. Aus dieser Begegnung schien eine Freundschaft zu wachsen. Vertrauensvoll gingen sie miteinander um und niemals spürte er Ablehnung, wenn er von seinen miesen Geschäften erzählte.
Beide machten ihm Mut und hier konnte er in aller Stille an seinem Manuskript arbeiten. Sie wussten auch von Emma und von dem Rückzug gegenüber seiner Mummi. Doch niemals hatten sie Druck auf ihn ausgeübt. Zuhören war ihre große Stärke und auch gemeinsam schweigen. Sie ließen ihn Lösungen auf seinem neuen Weg immer alleine finden. Eine, nach dem Erleben mit Rena ungewohnte Situation.
Er fühlte sich frei in seinen Entscheidungen. Freudig wurde er in den Arm genommen, nachdem das Weidenkörbchen, welches die beiden zwischen sich trugen auf dem Strohballen abgestellt war.

Im Osten wurde der Himmel langsam immer heller, während die drei ein Schwätzchen hielten, die Dunkelheit zog sich zurück und der Himmel begann in zartem Rosa zu erstrahlen. Die Nacht hatte die Temperaturen nur wenig herunter gekühlt. Gerade soviel, dass nun der Tag frisch erwachen konnte.
Die Pferde waren verladen, mit den beiden Gestütsbesitzern wechselte Tamino noch ein paar abschließende Worte und er verabschiedete sich von ihnen auf unbestimmte Zeit. Alles war nun offen, ohne Plan. Tamino wollte sich Zeit nehmen, sich Zeit lassen und die Momente genießen.

Als er die Tür seines Wagens öffnete, hörte er den Pferdepfleger rufen, „warte, wir haben hier noch etwas für dich“ und trug ihm das Weidenkörbchen entgegen.
Tamino schaute überrascht. „Was...?“ „Frag nicht“, wurde er unterbrochen. „Wir haben dir ein paar Sachen für ein Picknick eingepackt. Obst, Saft eine Kanne Tee und Kuchen. Ihr werdet euch viel zu erzählen haben. Da tut eine Stärkung zwischendurch gut. Lasst es euch einfach schmecken und genießt das Beisammensein.“
Mit diesen Worten und einem aufmunternden Lächeln verabschiedete sich sein neuer, sehr ehrlicher Freund und er räumte damit auch die letzten Bedenken aus Taminos Gedanken.

Vor ihm lag nun noch eine gute halbe Stunde Autofahrt bis er sein Ziel erreichen würde. Zeit, sich noch einmal zu sammeln. Ein wenig aufgeregt war er schon, was passieren könnte, wenn er bei Emma klingelt.
Doch all das musste er nun einfach auf sich zukommen lassen. Planbar war hier nichts.

Der Morgen zeigte sich von seiner schönsten Seite, stellte sich wie ein Verbündeter neben ihn. Zuversicht machte sich in Tamino breit. Sein Herz wurde ganz weit und füllte sich mit einer lange nicht mehr gefühlten Wärme je näher er seinem Ziel kam.
Würde dort am Ende der Straße, nach all dem Pech, nun ein kleines Glück warten?“

Tamino parkte sein Auto, stellte den Motor ab und stieg ganz langsam aus. Im Haus wurden gerade die Rollladen hochgezogen als er den Klingelknopf betätigte. Einen kleinen Moment Geduld, der ihm das Herz höher schlagen ließ, musste er aufbringen, bis sich die Tür weit öffnete und Emma ihm mit einem strahlenden Lächeln entgegentrat. Schweigend nahmen sie sich in die Arme. Minutenlang.

Schweigend lösten sie sich aus dieser Umarmung und ohne Worte zeigte Tamino einladend mit einem Blick zur Sonne, auf den Anhänger.
Stumm drehte sich Emma um, ging ins Haus und Tamino wollte sich gerade enttäuscht abwenden weil er glaubte, gleich würde die Tür vor seiner Nase zugeschlagen werden, als sich Emma ihm wieder zuwandt. Lachend drückte sie ihm ihren Haustürschlüssel in die Hand, drückte ihm einen Kuss auf seine, sich vor Erstaunen öffnen wollenden Lippen und lief mit einer Handvoll Möhren auf den Anhänger zu …..


1 Kommentar:

  1. die Geschichte von einem der auszog um nichts und doch alles dazuzulernen. Tamino der Kindskopf, steht nach erfolgreichem Schiffsbruch fast allein, aber besitzt die große unendliche Freundschaft von Emma. Tamino ist mir nah – so als würde er leben :-) Wie das jetzt wohl weitergeht? Gibt es noch einen Teil liebe Ella ….

    Und die Freundschaft der Liebe opfern? Opfern, was ein Wort? Aber ich habe es nicht so mit der Liebe, aber bin hier offen *zwinker*.
    Lg zu dir und das Jahr ruft in den letzten Zügen – hörst du es

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